Gewinner 2023

Die CLIO wird von »moving history – Festival des historischen Films e.V.« an den besten historischen Film des Jahres verliehen und geht in diesem Jahr an Soleen Yusef und Sarah Blaßkiewitz für die Serie SAM – EIN SACHSE (D 2023).

So begründet die Jury ihre Auswahl:

Die Geschichte der „Wende“ von 1989/90 gehört zum festen Inventar der deutschen Erinnerungskultur. Sie ist schon oft erzählt worden, auch im Film. Häufig finden sich Befreiungserzählungen, die mit der Grenzöffnung als einer Art Erlösung enden. Andere Filme gehen weiter und integrieren neben den Chancen auch die massiven Probleme der folgenden Jahre. Nur sehr vereinzelt wird der sozialistischen Utopie nachgetrauert. Trotz der politischen Gegensätze haben alle drei Narrative jedoch eines gemeinsam: Sie nehmen – wie die deutsche Erinnerungskultur insgesamt – völlig selbstverständlich die Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft ein.

Die Serie SAM – EIN SACHSE tut dies nicht. Sie wird aus dem Blick ihres Protagonisten Sam erzählt, eines Schwarzen Deutschen, und dabei lenkt sie uns fast nebenbei auf einen bisher kaum wahrgenommenen Aspekt, nämlich die Geschichte der Schwarzen Bewegung in Deutschland während der 1990er Jahre. Dies führt jedoch keineswegs dazu, dass die politischen Ereignisse um den Untergang der DDR und die schwierige Transformation Ostdeutschlands in den Hintergrund rücken. Im Gegenteil: Die damit verbundene Perspektivverschiebung ergänzt und verändert die etablierten Erzählungen und Bewertungen, ja stellt sie in Frage.

Denn, wenn es wie hier um Identität und Zugehörigkeit, um Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus geht, dann verlieren die Gegensätze und Kategorien, die sonst die Debatten zu diesem Thema beherrschen, massiv an Bedeutung: Egal ob Diktatur und Alltag, Zusammenbruch und Revolution, Befreiung und Kolonisierung, Ossis und Wessis oder die vermeintliche Entwertung ostdeutscher Biographien – nichts davon passt wirklich zu den Erfahrungen, die Sam auf seiner Suche nach sich selbst in den Jahren des Umbruchs macht.

Stattdessen zeigen sich Ambivalenzen – etwa beim Alltagsrassismus – der unabhängig von der Systemfrage existiert, und sich doch vor und nach 1989 unterschiedlich äußert. Die Antagonisten des Umbruchs, Volkspolizei und Bürgerbewegung, taugen letztlich nicht zur Identifikation, ihre Autoritäten, Major der Volkspolizei und demokratischer Minister aus der Bürgerbewegung, beide nicht als Ersatzväter. Trotz aller Bemühungen findet Sam auf Dauer weder im autoritären Realsozialismus noch bei dessen Gegnern aus der Bürgerbewegung oder in den anarchischen Strukturen der Nachwendezeit seinen Platz. Im nationalen Taumel des „glücklichsten Volks der Welt“ (Walter Momper) war von Anfang an kein Platz für Afrodeutsche – genau so, wie es die Dichterin May Ayim (die in der Serie vorkommt) in „Grenzenlos und unverschämt – ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit“ schon in den 90er Jahren formuliert hat. SAM – EIN SACHSE zeigt uns, wie wichtig diese Perspektive nicht nur für die Wahrnehmung der Gruppe Schwarzer Deutscher ist, sondern auch für ein plurales Geschichtsbild: Wie in einem Kaleidoskop verändert die Perspektive eine Geschichte, von der man bisher dachte, sie ziemlich gut zu kennen.

Anders als Arthouse-Produktionen richtet sich die Streaming-Serie an ein breites Publikum. Umso mehr hat uns die differenzierte Zeichnung der Figuren überzeugt. Die Autorinnen und Autoren haben es konsequent vermieden, eine eindimensionale Opfer- oder Heldengeschichte zu schreiben. Der Hauptcharakter Sam wird in seiner ganzen Vielschichtigkeit inszeniert: Keineswegs ist er einfach nur Opfer der Umstände, sondern zugleich eine höchst problematische Figur, nicht zuletzt in Bezug auf das Männlichkeitsbild, das er verkörpert.

Die Serie erweitert damit nicht nur unseren Blick auf den Umbruch von 1989/90 und die Transformationszeit. Sie gibt auch kluge und differenzierte Hinweise zu aktuellen Debatten um rechte Gewalt und Rassismus, um Geschlechterrollen und Identitätspolitik, sowie um Deutschland als Land mit einer heterogenen Gesellschaft.


© moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.,
Foto: Hansgeorg Schöner

Die Laudatorin
Katharina Warda
Die Preisträgerinnen
Soleen Yusef, Sarah Blaßkiewitz
Die Jury
setzt sich aus den Mitgliedern des »moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.« zusammen: Der Festivalleiterin Ilka Brombach, den Vorstandsmitgliedern Christoph Classen, Claudia Lenssen, Felix Moeller, Sachiko Schmidt und Chris Wahl.
Produktionsdaten
Deutsche Online-Premiere
26.04.2023 Disney+
Laufzeit
1 Staffel, 7 Folgen
Creator
Tyron Ricketts, Jörg Winger, Christoph Silber
Headautoren
Christoph Silber, Jörg Winger
Writers Room
Malina Nnendi Nwabuonwo, Toks Körner, Tyron Ricketts, Soleen Yusef, Carolin Würfel
Regie
Soleen Yusef, Sarah Blaßkiewitz
Darsteller*innen
Malick Bauer, Tyron Ricketts, Svenja Jung, Luise von Finckh, Paula Essam, Ivy Quainoo, Thorsten Merten, Martin Brambach
Produktion
Big Window Productions (Produzenten: Jörg Winger, Sebastian Werninger) in Kooperation mit Panthertainment (Produzent: Tyron Ricketts) für Disney+