Gewinner 2022

BETTINA von Lutz Pehnert

Die CLIO wird von »moving history – Festival des historischen Films e.V.« an den besten historischen Film des Jahres verliehen und geht in diesem Jahr an Lutz Pehnert für sein dokumentarisch-musikalisches Porträt der Liedermacherin und Lyrikerin Bettina Wegner – BETTINA (D 2022).

So begründet die Jury ihre Auswahl:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter gegebenen und überlieferten Umständen“, schrieb Karl Marx 1852. Er drückte damit seine Enttäuschung über den Staatsstreich Napoleons aus, aber in einem weiteren, weniger geschichtsphilosophischen Sinne scheint das Zitat auch perfekt auf die Biografie von Bettina Wegner zu passen: Im Lutz Pehnerts Film tritt sie uns als couragierte, unbeirrbare Kämpferin für einen humanen Sozialismus entgegen, aber die „gegebenen Umstände“ des antagonistischen Systemkonflikts haben sie zugleich zu einer Entwurzelten, Heimatlosen gemacht, die unter dieser gebrochenen Identität leidet.

Nur auf den ersten Blick scheinen Biopics einen einfachen Zugang zur Geschichte zu bieten, indem sie sich auf eine Person und ihr mehr oder minder geradlinig gezeichnetes Leben konzentrieren. Tatsächlich verbergen sich dahinter viele Tücken. Allein dadurch, dass Zufälle und biografische Widersprüche rückblickend gern ausgeblendet werden, wandeln die Filme auf einem schmalen Grat zwischen kritikloser Heldengeschichte und denunziatorischer Kritik. Vor allem aber besteht die Gefahr, individuelles Handeln als eigentlichen Motor von Geschichte darzustellen und darüber die Strukturen, die „gegebenen und überlieferten Umstände“ zu vernachlässigen.

An keiner dieser Klippen scheitert BETTINA. Im Gegenteil: Bei aller Sympathie für den Mut und die Zivilcourage der Protagonistin bleibt Raum für Selbstzweifel, Fehler und Scheitern. Entgegen aktuellen Trends präsentiert Pehnert Wegner nicht eindimensional, weder nur als feministische Heldin noch ausschließlich als Opfer. Eher ist sie beides zugleich: unbeugsame Kämpferin für Gleichberechtigung und Humanität einerseits, Leidtragende von Strukturen, die oft stärker waren als sie, andererseits. Damit wird BETTINA auch zu einem Film über die „Umstände“, zu einer Dokumentation der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, die über die Biografie der Protagonistin hinausweist.

BETTINA ist ein leiser, fast minimalistischer Film, der ohne großes Pathos und starke Effekte auskommt. Er setzt stattdessen auf eine sehr überlegte Montage, nicht zuletzt von Bild und Ton. Kombiniert werden im Wesentlichen Archivbilder und -töne Bettina Wegners, Aufnahmen aktueller Konzertproben, sowie umfangreiche Interviewsequenzen. Die Verbindung aus unbekannten DDR- Alltagsaufnahmen mit Wegners Musik gibt dem Film eine zeithistorische Dimension jenseits der verbreiteten Klischees. Die Gliederung anhand des Liedes „Gebote“ (1980) schafft eine thematisch gebrochene Chronologie, die ihren Lebensweg einerseits als moralisch konsequent, zugleich aber nicht als determiniert erscheinen lässt.

Natürlich, man muss das einfach sagen, macht Bettina Wegner es ihrem Chronisten oft auch leicht. Die Interviewsequenzen profitieren ungemein von ihrer Direktheit und Offenheit, ihrer Selbstreflexivität und ihrem Humor. Erst recht lebt der Film von der Poesie ihrer Lieder, die hier oft in voller Länge zu hören und weit mehr sind als ein Soundtrack. Durch sie ist BETTINA auch ein großartiger Musikfilm. Als solcher entwickelt er eine sinnliche Qualität, die zeithistorischen Filmen sonst meist fehlt.

Last not least möchten wir mit BETTINA einen politischen Film auszeichnen. Er nimmt Wegners Ideale von Zivilcourage und Engagement für eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft ernst und möchte vor allem bei den Jüngeren für eine solche, ethisch fundierte politische Haltung werben. Auch dies ist durch die Verschränkung von aktuellen Bildern mit historischen Tönen ästhetisch überzeugend inszeniert. Der Film wirkt so wie ein Gegenentwurf zu einer politischen Öffentlichkeit, die sich immer mehr in Aufregung, Aufmerksamkeitsökonomien und Skandalisierungen zu erschöpfen scheint.


© moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.,
Foto: Hansgeorg Schöner

Der Laudator
Marion Brasch
Die Laudatio können Sie hier einsehen.

Der Peisträger
Lutz Pehnert
Die Dankesrede können Sie hier einsehen.

Die Jury
setzt sich aus den Mitgliedern des »moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.« zusammen: Der Festivalleiterin Ilka Brombach, den Vorstandsmitgliedern Christoph Classen, Felix Moeller, Sachiko Schmidt und Chris Wahl.

Produktionsdaten

Uraufführung

13.02.2022, Berlin, IFF – Panorama

Laufzeit

107 Min.

Buch & Regie

Lutz Pehnert

Kamera

Anne Misselwitz, Thomas Lütz

Ton

Johannes Schneeweiß

Schnitt

Thomas Kleinwächter

Musik

Bettina Wegner

Produktionsleitung

Günter Thimm (rbb)

Produzentin

Susann Schimk

Redaktion

Rolf Bergmann (rbb)

Produktion

Koproduktion der solo:film GmbH mit dem RBB