Gewinner 2021

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE von Dominik Graf

Die CLIO wird von »moving history – Festival des historischen Films e.V.« an den besten historischen Film des Jahres verliehen und geht in diesem Jahr an Dominik Graf für seinen Spielfilm FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE (D 2021).

Der Film spielt im Berlin der 1930er Jahre am Ende der Weimarer Republik. Die Weltwirtschaftskrise und der nahende Nationalsozialismus lassen die Lebensverhältnisse prekär werden – Liebe und Freundschaft gehen buchstäblich »vor die Hunde«. Kästners Roman, der als Vorlage diente, galt den Nationalsozialisten bald als »entartet« und fiel den Bücherverbrennungen zum Opfer. Jetzt hat Graf daraus ein mitreißendes, gegenwärtiges Kino gemacht, das die Erfahrung politischer wie wirtschaftlicher Unsicherheit erzählt.

So begründet die Jury ihre Auswahl:

Nur auf den ersten Blick ist die Auseinandersetzung mit Geschichte ausschließlich eine Beschäftigung mit Vergangenheit. Tatsächlich berührt sie immer mehrere Zeitebenen: Sie findet zwangsläufig in der Gegenwart statt, und diese bestimmt die Perspektive, mit der wir auf Geschichte blicken. Indem sie Erfahrungs- und Erwartungshorizonte definiert, hat sie darüber hinaus Bedeutung für die Zukunft. Es geht es also weniger darum, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke), als um ein Vexierbild aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Kaum ein Spielfilm mit historischem Stoff trägt diesem Umstand so reflektiert und souverän Rechnung wie FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE. Gleich zu Beginn wird uns der Blickwinkel aus der Gegenwart eindringlich visuell vor Augen geführt, und auch im weiteren Verlauf des Films wird die Verschränkung der Zeitebenen nicht nur immer wieder spürbar, sondern auch transparent gemacht, sei es in Form von historischem schwarz-weiß Footage, der Nutzung körnigen Super 8-Materials oder durch Anachronismen wie dem Schwenk auf im Bürgersteig eingelassene Stolpersteine. Dies geschieht jedoch nie in Form eines harten oder epischen Bruchs, sondern immer fast beiläufig, spielerisch und ohne den scheinbar natürlichen Rhythmus des Films zu stören.

Diese Komposition überzeugt nicht nur ästhetisch, sondern hebt den Film auch aus der Menge fiktionaler Geschichtsfilme heraus. Er erliegt nicht der Tendenz vieler Produktionen, das Wissen und die Maßstäbe einer zeitgeistigen Erinnerungskultur mehr oder weniger umstandslos in die Geschichte zu projizieren und sie damit zu einer Exotisierung der Gegenwart zu degradieren. Entsprechend vermeidet FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE die Tendenz zu Ausstattungsorgien und huldigt auch sonst nicht dem gängigen Fetisch einer vermeintlichen „Authentizität“, die ja paradoxerweise zu sterilen Bildern und in historische Klischees führt. Die Geschichte derfrühen 1930er Jahre bleibt aus Sicht der Protagonist:innen ein offener, kontingenter Prozess, doch zugleich wird eben klar, dass wir heute sehr wohl um deren Ende wissen.

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE erzählt Geschichte nicht einfach von ihrem bekannten Ende her oder als schlichte Analogie der Gegenwart. Gerade dies macht ihn auf besondere Weise für die Reflexion gesellschaftlicher Gegenwart produktiv. Er führt uns die Zynismen einer entfesselten kapitalistischen Moderne ebenso vor Augen wie die prekären Existenzen in Kunst und Wissenschaft, er zeigt zunehmende politische Polarisierung, ferner die kaum auflösbaren Widersprüche und Ambivalenzen der individuellen Suche nach Liebe und Erfolg vor dem Hintergrund eines dysfunktionalen gesellschaftlichen Kontexts – alles Themen, die auch heute – leider – höchst aktuell erscheinen.

Dominik Graf ist so ein Film gelungen, der sich im besten Sinne dem Zeitgeist verweigert. Obwohl keine Sekunde langweilig oder artifiziell, sperrt er sich gegen jede Haltung folgenlosen Konsums. Vielmehr regt er zum Nachdenken an über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und wie sie zusammenhängen. Mehr kann ein historischer Film nicht leisten.

© moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V., Foto: Hansgeorg Schöner

 

Der Laudator
Michael Klier

Die Laudatio können Sie hier einsehen.

Die Jury
setzt sich aus den Mitgliedern des »moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.« zusammen: Der Festivalleiterin Ilka Brombach, den Vorstandsmitgliedern Christoph Classen, Felix Moeller, Sachiko Schmidt und Chris Wahl.

Produktionsdaten

Uraufführung

10.06.2021 Berlinale Summer Special, Wettbewerb

Laufzeit

186 Min.

Regie

Dominik Graf

Produktion

Felix von Boehm, Lupa Film GmbH in Koproduktion mit DCM und ZDF, in Zusammenarbeit mit ARTE, in Kooperation mit Amilux

Darsteller*innen

Tom Schilling, Albrecht Schuch, Saskia Rosendahl, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Meret Becker, Eva Medusa Gühne

Drehbuch

Constantin Lieb, Dominik Graf nach dem Roman »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten« von Erich Kästner (1931)

Kamera

Hanno Lentz

Schnitt

Claudia Wolscht

Musik

Sven Rossenbach, Florian van Volxem