Gewinner 2019

KULENKAMPFFS SCHUHE
Buch und Regie: Regina Schilling

Die Fernsehdokumentation KULENKAMPFFS SCHUHE behandelt das Beschweigen und die untergründige Präsenz von Nationalsozialismus und Kriegserfahrung in der Bundesrepublik der 1950er bis 1980er Jahre. Sie verknüpft die Familiengeschichte der Autorin mit den biederen Samstagabend-Unterhaltungsshows im Fernsehen dieser Zeit. Über die Idole und Ersatzväter ihrer Kindheit nähert sich Regina Schilling der nie thematisierten NS-und Kriegsvergangenheit ihres früh verstorbenen Vaters an.

Begründung der Jury

Wir prämieren Filme, die sich auf besondere Weise mit einem historischen Thema befassen“ – so heißt es wörtlich in der Beschreibung der CLIO, die den besten Film des vergangenen Jahres zu einem historischen Thema auszeichnet.

Worin besteht „das Besondere“ im Falle von KULENKAMPFFS SCHUHE? Zum einen in seinem Gegenstand. Die fortdauernde Präsenz von Kriegs- und nationalsozialistischer Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik wird an einer Stelle gesucht und gefunden, wo man sie am allerwenigsten erwartet hätte, nämlich in den biederen Fernseh-Unterhaltungsshows „Einer wird gewinnen“, „Dalli-Dalli“ und der „Peter Alexander Show“. Vielmehr wirken diese wegen ihrer ostentativen Harmlosigkeit als Inbegriff der Vergangenheitsverdrängung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Gerade dort die mehr oder minder versteckten Hinweise auf die Gewaltgeschichte und die Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischer und bundesrepublikanischer Gesellschaft aufzusuchen und zu -zeigen, ist neu und überraschend. Möglich wird dies erst durch eine Footage-Recherche, deren Ausmaß und Akribie der fertige Film nur erahnen lässt. Wo allzu viele historische Dokumentationen auf die immer gleichen, sattsam bekannten Bilder setzen, gilt für KULENKAMPFFS SCHUHE das genaue Gegenteil.

Eine weitere Qualität besteht in der gelungenen Verbindung von Familiengeschichte und Zeitgeschichte. Autobiographische Spurensuchen und zeitgeschichtlich kontextualisierte Familienporträts sind ebenso wie subjektive Perspektiven im Dokumentarfilm schon länger kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Aber selten ist dies formal und inhaltlich so überzeugend umgesetzt wie hier: Die Montage von privaten Schmalfilmen und TV-Footage dient zusammen mit dem Kommentar dem Wechsel zwischen zeitgenössisch-naivem und retrospektivem, um den Horror der Vergangenheit wissenden Blick. Die durch den Verlust des Vaters entstandene kindliche Verunsicherung wird so um eine gesellschaftliche Dimension erweitert, die vermeintliche Geborgenheit erweist sich nicht nur auf familiärer Ebene als Illusion. Zugleich folgt auf diese Verunsicherung keine Vergewisserung: Viele Fragen bleiben offen, abschließenden Urteilen verweigert sich die Autorin.

Regina Schillings Film ist somit nicht nur innovativ. Er zeichnet sich durch ein inhaltlich und ästhetisch stimmiges Konzept aus und nutzt diese Mittel konsequent, um auf äußerst unterhaltsame, kurzweilige Art zu kritischer Reflexion über Geschichte anzuregen. KULENKAMPFFS SCHUHE leistet so historische Aufklärung im besten Sinne.

Der Laudator
Uwe Timm
Die Laudatio als pdf zum Download

Die Jury
setzt sich aus den Mitgliedern des „moving history – Festival des historischen Films Potsdam e.V.” zusammen: Der Festivalleiterin Ilka Brombach, den Vorstandsmitgliedern Christoph Classen, Claudia Lenssen, Felix Moeller, Sachiko Schmidt und Chris Wahl.

Produktionsdaten

Uraufführung

08.08.2018, ARD

Laufzeit

92 Min.

Regie und Konzept

Regina Schilling

Produktion

Thomas Kufus, zero one Film GmbH (Berlin), , im Auftrag des SWR, in Koproduktion mit dem HR

Schnitt

Jamin Benazzouz

Sprecherin

Maria Schrader

Musik

Wolfgang Böhmer

Preise

3sat-Dokumentarfilmpreis, Filmwoche Duisburg (2018); Beste Dokumentation, Deutscher Fernsehpreis (2019); Kategorie Information & Kultur, Grimme-Preis (2019); moving history Clio (2019)